Institut für Elebnispädagogik

Jörg Ziegenspeck

Erlebnispädagogik

Grundsätzliche Anmerkungen zu einer wissenschaftlichen Praxis und praktischen Wissenschaft

1. Vorbemerkungen

Immer dann, wenn sich Krisen in der Gesellschaft manifestieren, wenn Lösungen zur Bekämpfung ökonomischer und sozialer Probleme an der Mehrheitsfähigkeit in den Parlamenten scheitern und sich Unzufriedenheit und (Staats-)Verdrossenheit breitmachen, suchte die junge Generation nach alternativen Formen der Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung. Das war in den Zwanziger Jahren so ("Aus grauer Städte Mauern zieh'n wir auf's weite Feld ..."), das kennzeichnet auch die "Gründe Subkultur" (die seit Jahren die herrschende Kultur entscheidend verändert). Immer dann also, wenn sich Jugend in Bewegung setzt ("Jugendbewegung"), stand die Suche nach Erlebnissen "aus erster Hand" auf der neuen Bedürfnisliste der jungen Generation obenan.

So auch in unseren Tagen: während der größte Teil der Kits und Youngster noch von der Konsumgesellschaft mit ihren trügerischen Angeboten umgarnt und einge-fangen wird und sich vom Fernseher, vom Walkman und der Flipperhalle nicht lösen kann, haben andere längst den Rucksack — im tatsächlichen und / oder über-tragenen Sinne — gepackt, um "neue Horizonte zu erobern" und "zu neuen Ufern auf-zubrechen", oder um ein-, aus- oder umzusteigen.

"Erlebnispädagogik" — so die Antwort auf die Aufbruchstimmung. Erlebnispädagogik — lange Zeit ein Schlagwort ohne Fundament, eine Reaktion auf jugendliche Aktion ? Der Frage ist nachzugehen.

2. Definition:

Die Erlebnispädagogik versteht sich als Alternative und Ergänzung tradierter und etablierter Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Sie ist in der Reformpädagogik verwurzelt, geriet nach dem II. Weltkrieg fast völlig in Vergessenheit und gewinnt in dem Maße neuerlich an Bedeutung, je mehr sich Schul- und Sozialpädagogik kreativen Problemlösungsstrategien verschließen. Als Alternative sucht die Erlebnispädagogik neue Wege außerhalb bestehender Institutionen, als Ergänzung wird das Bemühen erkennbar, neue Ansätze innerhalb alter Strukturzusammenhänge zu finden.

Hört man in unseren Tagen das Wort "Erlebnispädagogik", so kann davon ausgegangen werden, dass primär natursportlich orientierte Unternehmungen — zu Wasser oder zu Lande, auch in der Luft — gemeint sind. Diese einseitige Ausrichtung auf "out door"-Aktivitäten (Out door-Pädagogik) ist derzeit Fakt, muss aber in Zukunft zugunsten von "in door"-Aktivitäten (In door-Pädagogik) abgebaut werden, denn gerade auch in künstlerischen, musischen, kulturellen und auch technischen Bereichen gibt es vielfältige erlebnispädagogische Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.

Unter Berücksichtigung des aktuellen und vorwiegend natursportlich orientierten und akzentuierten Diskussionsstands kann gegenwärtig folgendes gesagt werden:

Erlebnispädagogische Programme — orientiert man sich an den vielfältigen vorfindbaren Angeboten — beziehen die natürliche Umwelt mit ein und verfolgen damit meist zugleich einen ökologischen Bildungsanspruch.

Dabei scheinen terminologische Abgrenzungen notwendig zu sein:

Gleichwohl tragen erlebnispädagogische Out door-Programme immer auch ein gewisses Rest-Risiko in sich, das allerdings nach bestem Wissen und Gewissen kontrolliert und eingegrenzt werden muss.

3. Historischer Rückblick

Die Erlebnispädagogik stellt sich gegenwärtig aspektreich und differenziert dar; vom zaghaften (Neu-)Anfang vor über fünfzehn Jahren bis heute (2007) ist ein quantitativer und qualitativer Fortschritt der weitgehend praxisorientierten bundesrepublikanischen Diskussion festzustellen.

Die Wurzeln der Erlebnispädagogik liegen bei Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) und seiner Begründung einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, in der das Erleben der eigenen Zustände und das Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistes als die beiden Möglichkeiten des Menschseins verstanden wurden, die Wirklichkeit zu erfassen.

Erleben ist das subjektive Innewerden von Vorgängen, die als bedeutsam empfunden werden. Die Erfahrung stellt dann die Summe von Erlebnisanteilen dar, Erfahrung ist das durch eigenes Erleben und eigene Anschauung erworbene Wissen. Und aus Erfahrungen erwachsen schließlich Erkenntnisse, aus denen möglicher-weise Einsichten resultieren können, die als die höchste Stufe menschlicher Weisheit zu bezeichnen sind. Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Einsichten sind also wichtige Begriffe in der und für die Erlebnispädagogik.

Die Erlebnispädagogik hatte um 1930 in Deutschland ihren (ersten) Höhepunkt. Sie wurde in der Reformpädagogik zu einem wichtigen Pfeiler des Unterrichtsverständnisses. In der Dissertation von Waltraut Neubert (1930), einer akademischen Schülerin von Herman Nohl (Universität Göttingen), dürfte das transparent werden. Das Erlebnis wurde dabei als ein "methodischer Grundbegriff der modernen Pädagogik" neben dem der Arbeit verstanden, wobei die Schule als "Erlebnisfeld des Kindes" galt.

Die Erlebnispädagogik geriet nur wenige Jahre später in den braunen Sog schlimmer pädagogischer Verirrungen und politischer Manipulationen (1933 - 1945). Durch die Vereinnahmung durch die Organe der NSDAP [z.B. "Hitler-Jugend" (HJ) und "Bund Deutscher Mädel" (BDM), "Kraft durch Freude" (KdF) ] und die Nutzbarmachung wichtiger erzieherischer Elemente (z.B. Feste und Feiern, Fahrten und Lager) für parteipolitische Ziele wurde die Erlebnispädagogik ihres ursprünglichen, geisteswissenschaftlich fundierten Sinns beraubt.

Nach dem II. Weltkrieg versuchte man dann in der Bundesrepublik Deutschland lükkenlos dort anzuknüpfen, wo das Dritte Reich mit seiner Gewalt- und Schreckensherrschaft die Kontinuität von Entwicklungen unterbrochen hatte. Bildungspolitisch geschah das allerdings "mit halbem Herzen", war die Gruppe der politisch Belasteten doch — zumindest in Westdeutschland — unter den Erziehern und Lehrern besonders groß. Von einer "pädagogischen Aufbruchstimmung" (wie z.B. nach dem I. Welt-krieg) konnte deswegen nicht die Rede sein, zumal es zunächst auch um den Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands ging, also andere Probleme vorrangig zu lösen waren. Die ökonomischen Erfolge ("Wirtschaftswunder") waren dann auch kein Anlass, an der "Güte" des tradierten Bildungssystems zu zweifeln. Restauration rangierte also deutlich vor notwendigen Reformen.

Mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft und der staatlichen Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere aber unter dem Eindruck der machtpolitischen Blockbildung in Europa und der Welt ("Kalter Krieg"), ging es mehr und mehr um den "Wettlauf der Systeme", dem sich das Bildungs- und Ausbildungswesen zuzuordnen hatte. Der so genannte "Sputnik-Schock" führte zu curricularen Anstrengungen, bei denen die Optimierung von kognitiven Lernleistungen als zentrales Ziel vor Augen stand. Die Ganzheitlichkeit eines abendländischen Bildungsdenkens blieb dabei weitgehend auf der Strecke; im kritischen Rückblick spricht man vom "ver-kopften" Denken und vom "ver-schulten" Lernen als Folge solcher bildungspolitischer Vorgaben und Leitlinien.

Erst in der jüngeren Zeit bahnen sich neue (ökologische) Erkenntnisse ihren Weg durch alte Denk-, Bewusstseins- und Handlungsmuster. Damit brechen alte (politische) Strukturen auf — im Osten und im Westen. Menschsein und Menschwerden erhalten einen differenzierten neuen Begründungsrahmen; äußere und innere Grenzen und Barrieren können — so die Hoffnung — abgebaut werden.

In der Folge wird über vieles neu nachgedacht — auch über Erziehung und Bildung.

4. Daraus erwachsende Perspektiven

Wer von alten Bildern Abschied nimmt (oder nehmen muss), gewinnt eine neuen Blickwinkel für gesellschaftspolitische Notwendigkeiten.

War der aus heutiger Sicht zu kennzeichnende erste Höhepunkt in der Geschichte der Erlebnispädagogik konzentriert auf den Raum der Schule, so steuert die Erlebnispädagogik gegenwärtig ihrem zweiten Höhepunkt auf der Skala erzieherischer Wertschätzung entgegen. Auffällig ist dabei aber, dass nun eher ausserschulische Wirkungsfelder entdeckt werden, der Erlebnispädagogik also eine sozialtherapeutische Aufgabe zuwächst (vielleicht erfährt — so reflektiert — der von Kurt Hahn geprägte Begriff "Erlebnistherapie" pädagogisch seine neue Bewertung und wird von der Psychologie in entsprechende Behandlungskonzepte integriert und (sozial-) therapeutisch genutzt).

Dieser Prozess erfährt durch die bildungspolitischen Folgen der Neuvereinigung Deutschlands eine wesentliche Beschleunigung und eine deutliche Vertiefung: denn einerseits wird nach neuen Wegen öffentlicher Jugendhilfe gesucht, weil die Erziehungsprobleme unter den veränderten sozialpolitischen Verhältnissen expandieren und kaum noch angemessen bewältigt werden können (z.B. Jugendarbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenproblematik, famlilale Leere durch "brooken home"-Situationen, soziale Vereinzelung und Vereinsamung als Massenphänomene), andererseits gelingt es immer weniger, positive Leitbilder zu vermitteln, weil solide und gewachsene Normen- und Wertegefüge nicht mehr auszumachen sind (so bietet die Politik immer mehr Anlass zur sog. Politikverdrossenheit, weil durch Korruption, Machtmissbrauch und öffentliche Lügen handelnder Personen ständig Negativ-Modelle entwickelt werden und bei jungen Menschen nicht ohne eine entsprechende Wirkung bleiben). — Ein erziehungswirksamer "Teufelskreis" mit Langzeitwirkung und kritischen Beschleunigungstendenzen tut sich hier auf, ohne dass sichtbar und wirkungsvoll gegengesteuert wird. Der zunehmende Rechtsextremismus und die steigende Kriminalität sind nur die Spitze des Eisbergs, die hier unterschwellig Wachsendes und Beängstigendes sichtbar werden lässt. — Der Sozialstaat wird als "erschöpft" charakterisiert, neue Wege zur sozialen Gerechtigkeit werden kaum sichtbar. Eine schlimme Situation in einer Welt, in der Deutschland zählt, in Europa, in dem auf dieses Land gebaut wird, das zu den führenden Industrienationen gehört und also in der Lage sein müsste, die eigenen Probleme beispielhaft zu regeln, um damit Auswege auch für andere Nationen zu zeigen.

5. Resümee und Anregungen zum Weiterdenken

Je nach den spezifischen Programmen (z.B. natursportlich, künstlerisch-kulturell technisch akzentuiert), je nach der Klientel, der Zielgruppe bzw. der individuellen Problemlagen der Teilnehmer (z.B. Schüler, Auszubildende, Jugendliche aus sozialen Brennpunkten der Gesellschaft), je nach dem zeitlichen Rahmen (Kurzzeit- oder Langzeitmaßnahmen) und der Anforderungsstruktur (physisch, emotional, sozial und / oder kognitiv; Vor-Erfahrungen und / oder -Kenntnisse; Anspruchsniveau) wird eine unverwechselbare Methodenauswahl zu treffen und pädagogisch zu begründen sein. — Denn mit Methoden sollen alle Fragen, die mit dem "Wie" bei der prakti-schen Umsetzung von Maßnahmen und Programmen zusammenhängen, perso-nen-, ziel- und konzeptorientiert und damit erzieherisch schlüssig beantwortet werden.

Sozialpädagogisch bedeutsam dürfte auch die Unterscheidung zwischen erlebnispädagogischen Maßnahmen mit dem Ziel der Prävention oder der Nachsorge im devianzpädagogischen Bereich sein, wobei hier insbesondere auch auf die Heimerziehung hingewiesen werden kann, wo bereits vielfältige Erfahrungen gesammelt werden konnten (z.B. Reise-Pädagogik, Projekte im Ausland, sozialtherapeutische Segeltörns, Einzelbetreuung).

Zwei Thesen und eine Feststellung sollen zum Weiterdenken anregen:

  1. Erlebnispädagogik macht Umdenken notwendig, so dass 1986 in einer Studie zu Leben und Werk des Reformpädagogen Kurt Hahn von der notwendigen "Kopernikanischen Wende" des Lernprozesses gesprochen wurde:

    Im Gegensatz zu theoriebildenden Lernsituationen dominieren bei erlebnispädagogisch akzentuierten Programmen nämlich Vermittlungsstrategien, bei denen es um Fertigkeiten und Kenntnisse geht, die vorrangig praktisch erfahrbar gemacht werden. — Oder etwas anschaulicher formuliert:

    Nicht das Lernen über den Kopf ist Trumpf (und wie viele Jugendliche haben durch ein solches verschultes Lernen das Lernen verlernt ?), sondern das Lernen über die Hand und die unmittelbare Beobachtung und Erfahrung wird angebahnt (und steigt dann manchem auch wohl zu Kopfe !). - Wer etwas 'behandelt', wer sich mit etwas 'befasst', wer etwas 'begreifen' will, der muss dazu auch Chancen erhalten - im wahrsten Sinne des Wortes. Wann werden wir endlich erfassen, dass der 'Nürnberger Trichter', der nach wie vor hohen Stellenwert besitzt, das falsche Instrument ist, unser Verhalten zukunftsorientiert zu verändern?

  2. Ein ganzheitlicher Ansatz kennzeichnet erlebnispädagogisch definierte bzw. begleitete Maßnahmen und Programme allgemein, woraus folgende Feststellung getroffen werden kann:

    "Herz, Hand und Verstand" gehören zusammen und machen die Ganzheitlichkeit menschlichen Lebens und sozialer Bezüge aus, wobei das Herz für Leben und Lieben steht, die Hand für Handeln und Leisten, der Verstand für Lernen und Lenken, und mit allem soll der Welt Sinn, dem einzelnen Menschen Bewusstsein gegeben und Emanzipation für alle ermöglicht werden.

    Daraus folgt:

  3. Unmittelbares Lernen mit Herz, Hand und Verstand in Ernstsituationen und mit kreativen Problemlösungsansätzen und sozialem Aufforderungscharakter bilden den Anspruchsrahmen erzieherisch definierter, verantwortbarer und auf eine praktische Umsetzung ausgerichteter Überlegungen, die auf individuelle und gruppenbezogene Veränderungen von Haltungen und Wertmaßstäben ausgerichtet sind und durch sie veranlasst und begründet werden.

  4. Die Erlebnispädagogik ist — wie zu zeigen war — eine recht junge erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, die bisher nur langsam entwickelt werden konnte. In dem Maße, wie ihr zunehmend mehr öffentliche Wertschätzung zuteil wird — aus welchen Gründen auch immer –, wird das Interesse an Ergebnissen und Erkenntnissen auch dazu führen, dass Mittel und Personal bereitgestellt werden, um zu fundieren und zu substantiieren, was gegenwärtig eher noch im Vagen, Vorurteilsbelasteten und vorwissenschaftlichen Dunkel liegt.